Migration Mit diesem Asyl-Kurswechsel gibt Berlin ein Scheitern zu

Stand: 30.07.2022 | Lesedauer: 4 Minuten

Von

Carolina Drüten,

Marcel Leubecher

Obwohl sie in Griechenland Schutz erhielten, reisten Zehntausende Flüchtlinge nach Deutschland und beantragten erneut Asyl. Eine Praxis, die die Bundesregierung beenden wollte. Doch Athen mauerte - mit Erfolg. Berlin stellt nun massenhaft Asylbescheide aus. WELT AM SONNTAG liegen die Zahlen exklusiv vor. Quelle: Leon Kuegeler/picture alliance/photothek;
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"Nach Deutschland" - diese Antwort geben Migranten in Griechenland immer wieder auf die Frage nach ihrem Ziel. Zehntausende von ihnen haben einen Weg gefunden, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Einmal als Flüchtlinge in Griechenland anerkannt, können sie drei Monate lang frei in die meisten Staaten der EU reisen. Sie steigen in ein Flugzeug nach Deutschland - und beantragten dort erneut Asyl.

Zurückschicken dürfen deutsche Behörden diese Menschen nicht. Deutsche Verwaltungsgerichte haben entschieden, dass dafür die Versorgung von Flüchtlingen in Griechenland zu schlecht sei. Lange lagen die Fälle auf Eis; die Vorgänger-Bundesregierung suchte nach einer politischen Lösung mit Athen. Ohne Erfolg. Mit der Ampel-Koalition kam der Paradigmenwechsel. Seit einigen Monaten werden die Fälle nach und nach abgearbeitet. Die meisten der Menschen erhalten einen Asylstatus in Deutschland.

"Die Entscheidungstätigkeit für diese Fälle wurde zum April 2022 wieder aufgenommen, seitdem befinden sich diese Verfahren alle in Bearbeitung", teilte das Bundesinnenministerium auf Anfrage von WELT AM SONNTAG mit. Demnach hatten bis Ende Juni 49.841 anerkannte Schutzberechtigte aus Griechenland einen erneuten Asylantrag in Deutschland gestellt; im ersten Halbjahr dieses Jahres wurden rund 15.200 Verfahren entschieden. 88 Prozent der Fälle erhielten auch in Deutschland einen Schutzstatus. Die meisten von ihnen sind Syrer, Afghanen und Iraker.

Drei Wochen nach dem Asylbescheid steigen sie in den Flieger nach Deutschland

Zehntausende Flüchtlinge kamen dieses Jahr nach Deutschland - nachdem sie bereits in Griechenland Asyl erhalten hatten. Die Bundesrepublik darf sie nicht zurückschicken. Unsere Reporter sind dem Problem in Athen auf den Grund gegangen. (Video mit Transkript)

Quelle: WELT

Der Kurswechsel in der deutschen Asylpolitik ist auch ein Eingeständnis, dass die Einigung mit Griechenland gescheitert ist - zumindest über jene Menschen, die bereits nach Deutschland weitergereist sind. Athen lehnt bis heute kategorisch ab, sie zurückzunehmen. Berlin hatte sich mehrmals bemüht, Griechenland zu einer besseren Versorgung der Flüchtlinge zu bewegen. Die Begründung deutscher Verwaltungsgerichte, warum die Menschen nicht zurückgeschickt werden können, wäre damit hinfällig.

Angeliki Dimitriadi vom Thinktank Eliamep beschrieb die Bedingungen kürzlich so: "In dem Moment, in dem jemand Asyl hier in Griechenland erhält, ist der Staat fertig mit ihm. Man ist auf sich allein gestellt", sagte die Migrationsforscherin. Die finanzielle Unterstützung werde eingestellt, der Platz in der Unterkunft entzogen. Deshalb wollten viele weiter - vor allem nach Deutschland.

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Im Frühjahr 2021 bot die Bundesregierung Griechenland die Übernahme von Flüchtlingskosten an, also "eine entsprechende Unterbringung und Versorgung von aus Deutschland zurückzuführenden Schutzberechtigten mit eigenen Ressourcen", wie das Bundesinnenministerium damals eine Recherche von WELT AM SONNTAG bestätigte.

Dafür wollte Berlin unter anderem Hotels in Griechenland anmieten. Dieses Angebot nahm die griechische Seite aber nicht an. Offiziell, weil man Flüchtlinge nicht besserstellen könne als griechische Staatsbürger, die Unterstützung benötigen.

Für den griechischen Migrationsminister Notis Mitarachi indes ist Sekundärmigration nicht per se ein Problem. Er macht dafür Unterschiede in den Sozialstaaten und Gehältern verantwortlich. "Die Menschen gehen dorthin, wo es für ihre Familien besser ist, was absolut logisch ist", sagte er auf Nachfrage von WELT am Rande des Besuchs von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock in Athen am Donnerstag.

Ohnehin findet er, dass Flüchtlinge Bewegungsfreiheit in der EU erhalten sollten. "Wenn man in Europa Asyl erhält, warum wird man dann in einem Land geografisch eingeschränkt?", so Mitarachi. Im Falle der ukrainischen Flüchtlinge habe man schließlich auch einen europäischen Schutzraum geschaffen. "Wir brauchen ein Asylsystem, das für die gesamte EU gilt."

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Zur Wahrheit gehört aber auch: Dass anerkannte Flüchtlinge das Land verlassen, ist in Griechenland politisch gewollt. Athen fühlt sich als Außengrenzstaat in der Asylfrage von den europäischen Partnern alleingelassen. Sobald die Menschen also mit Flüchtlingspässen ausgestattet sind, "lässt man sie weiterziehen", so Expertin Dimitriadi. "Die Strategie ist natürlich nicht offiziell, niemand wird sie zugeben. Aber es ist gängige Praxis."

Um das Problem anzugehen, erarbeitete das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge das sogenannte Isbig-Projekt ("Integrationsförderung für Personen mit internationalem Schutzstatus in Griechenland"). Im Juli 2021 bekräftigten Deutschland und Griechenland, Flüchtlinge in Griechenland "im Hinblick auf ihre Unterbringung, medizinische Grundversorgung und die Bereitstellung aller notwendigen Artikel" unterstützen zu wollen. Finanziert wird das Ganze von Deutschland und einem EU-Fördertopf.

"So nebenbei unter dem Radar"

Um eine Rückführung der nach Deutschland weitergezogenen Flüchtlinge geht es offiziell explizit nicht. Im März traf Migrationsminister Mitarachi die deutsche Innenministerin Nancy Faeser in Berlin; sie vereinbarten, das Programm "in den kommenden Wochen" umzusetzen.

Doch auch dieser Plan führte bis heute nicht zum Ziel. Wie WELT von damit betrauten Beamten erfuhr, ist das Programm "immer noch nicht richtig angelaufen". Zwar sei das Projekt formal in Kraft, es laufe aber unterhalb der Wirksamkeitsschwelle "so nebenbei unter dem Radar".

Mitarachi sagte auf Nachfrage, das Problem liege auf europäischer Ebene, denn die Budgets im Bereich Migration für die Jahre 2021 bis 2027 seien bisher nicht bewilligt. "Die Gelder, die Deutschland Griechenland für die Integration von anerkannten Flüchtlingen bereitwillig zur Verfügung stellt, sind technisch noch nicht verfügbar. Wir haben uns mit Nancy Faeser im Prinzip geeinigt", sagte er. Die Fragen auf EU-Level würden sich hoffentlich im Laufe des Jahres klären. "Dann sollte das Programm Anfang 2023 anlaufen."


Quelle: welt.de